Die Kuratorin Kristina Jaspers stellt am Beispiel der Ausstellung Kino der Moderne. Film in der Weimarer Republik verschiedene Strategien der Ausstellungstheorie und -praxis vor.
In Besucherbefragungen zeigt sich immer wieder, dass eines der wichtigsten Motive, eine Ausstellung zu besuchen, das Interesse ist, hier etwas Neues zu erfahren (Report Besucherprofilbefragungen, Deutsche Kinemathek 2017). Dies rangiert noch vor dem Bedürfnis nach einer „Auszeit“ oder dem Wunsch, etwas gemeinsam mit Anderen zu erleben. Dieses Anliegen gilt es durchaus ernst zu nehmen. Zur kuratorischen Aufgabe gehört es, hierfür den richtigen Rahmen zu schaffen und mit Hilfe der Objektauswahl und -präsentation nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern neue Perspektiven auf bereits Bekanntes anzuregen. Eine historische Kontextualisierung kann dies unterstützen.
Im Unterschied zu einem Buch bietet eine Ausstellung die Möglichkeit, Inhalte multisensuell zu vermitteln. Das Ausstellungsdispositiv kann daher neben visuellen auch akustische und haptische Reize einbeziehen. Zu den Rezeptionsbedingungen gehören neben Textlängen und Sprachstilen auch die (oftmals kritisierte) Punktgröße von Beschriftungen und die Beleuchtungssituation, sowie die Körperpositionen, die die Besucher in den Räumen einnehmen können. Im Fall der Ausstellung Kino der Moderne finden sich neben der Möglichkeit zur konzentrierten Betrachtung von Exponaten auch Angebote zum flanierenden Schlendern und zum entspannten Sitzen auf einer Plaza oder im abgedunkelten Kinoraum.
Optimalerweise unterstützt die Szenografie die Ausstellungsnarration. Bei einem historischen Thema sollte die Architektur einerseits konkret genug werden, um das Eintauchen in eine vergangene Zeit zu ermöglichen und anderseits abstrakt genug bleiben, um die heutige Perspektive nicht zu verleugnen. Atelier Schubert hat im Fall von Kino der Moderne eine überzeugende Gestaltung entwickelt: Offene Baugerüste suggerieren eine Zeit im Umbruch, deren Ausgang noch ungewiss ist. Wir sehen die Weimarer Republik quasi „under construction“. Auch der Kulissenbau eines Filmsets wird so angedeutet. Und die Formensprache zitiert den Konstruktivismus, der mit klarer Geometrie einen kreativen Aufbruch formuliert.
Auch bei der Inszenierung der Exponate lässt sich der zeithistorische Kontext andeuten, ohne diesen rein illustrativ zu imitieren. So werden die Kostüme von Marlene Dietrich, Jenny Jugo und Heddy Sven auf historischen Schaufensterpuppen präsentiert. Das Zeittimbre klingt damit gleich mehrfach an: Die Physiognomien der Puppen wurden oft Schauspielerinnen nachempfunden; nicht umsonst heißt der blonde Typus „Marlene“ und ähnelt einer der femininen Ikonen der Zeit. Die Proportionen und Haltungen der Figurinen entsprechen einem anderen Körperideal als dem heutiger Mannequins. In der Kombination mit Wochenschau-Ausschnitten damaliger Modenschauen wird zugleich das zeitgenössische Körperbewusstsein sichtbar.
Die Kinogänger der Zeit werden anhand von so genannten „Photomaton“-Bildern vorgestellt. Auf diesen frühen „Selfies“, die ab Ende der 1920er Jahre in Fotokabinen mit Selbstauslöser aufgenommen werden konnten, präsentieren sich Arbeiter und Angestellte der Weimarer Republik. Die Posen, die sie einnehmen, sind alltäglicher, spielerischer als die Haltungen in der klassischen Studiofotografie. Das Alltagsleben wird in der Ausstellung filmischen Inszenierungen gegenübergestellt: Eine historische Schreibmaschine wird mit dem Szenenbildentwurf eines Großraumbüros konfrontiert, eine Sprossenwand dem Filmclip aus einem Fitnessstudio gegenübergestellt und eine Röntgenapparatur den frühen Aufnahmen vom Inneren des menschlichen Körpers. Diese Alltagsobjekte und ihre kinematografischen Interpretationen eröffnen zugleich einen gesellschaftspolitischen Kontext. Soziale Unterschiede werden sichtbar, wenn Heimtrainer und Arbeitersportclub, Schreibstube und Chefetage verglichen werden. Die politischen Kämpfe der Zeit spiegeln sich nicht allein in den Demonstrationen und Pamphleten der Parteien.
In der solcherart historisch gestimmten Ausstellungsatmosphäre lassen sich auch die medialen Diskurse der Zeit nachvollziehen. In einem gleißend weißen, von einer Glühbirne erhellten Raum zum Thema „Film denken“ wird die Filmbibliothek Walter Benjamins rekonstruiert. In Form knapper Zitate prallen die unterschiedlichen Thesen der hier versammelten Autoren aufeinander. Verschiedene Positionen der Filmbetrachtung – aus soziologischer, ästhetischer oder wahrnehmungstheoretischer Perspektive – wurden damals erstmals formuliert. Während für Rudolf Arnheim die persönliche Handschrift des Regisseurs den Film zum Kunstwerk erhebt, ist es für Béla Balázs das Publikum, das den Film zur sozialen Kunst macht. Auch wenn sich die Standpunkte teils vehement widersprechen, so können doch alle für sich Gültigkeit reklamieren.
Eine Medieninstallation unterstützt diesen multiperspektivischen Ansatz. Hier werden zu den entsprechenden Filmausschnitten die Zitate der Filmkritikerinnen und -kritiker eingesprochen; man kann ihnen beim „Film denken“ zuschauen und zuhören und die eigene Wahrnehmung mit ihren Betrachtungen abgleichen. Das „Neue“ dieses medialen Umbruchs wird so tatsächlich erfahrbar. Die damalige Zeit wird verlebendigt sowohl in den bewegten Bildern als auch in der Beschreibung der Emotionen und Assoziationen, die diese Bilder damals hervorriefen. Möglicherweise verändert dies auch die Wahrnehmung der Gegenwart, wenn bei der nächsten Filmbetrachtung die verschiedenen Lesarten der Weimarer Kritiker herangezogen werden. Die Ausstellung funktioniert so als eine Schule des Sehens, die historische Perspektiven für die Gegenwart fruchtbar macht.
KINO DER MODERNE
Film in der Weimarer Republik
bis 13. Oktober 2019
in der Deutschen Kinemathek, Berlin