Plakatierung U-Bahn Heussallee / Museumsmeile, Bonn

Deutschland wird deutscher

Damals wie heute

1992, im Jahr der Gründung der Europäischen Union, schuf Katharina Sieverding ein Werk, das im Rahmen der Skulpturenausstellung des Kultur-Region-Projekts Platzverführung, im Raum Stuttgart, die „besondere Qualität des Standortes“ zum Ausdruck bringen sollte. Die darauffolgende intensive Diskussion über die provokative Arbeit ist ein Beweis dafür, dass Kunst innerhalb der Gesellschaft eine kritische Funktion haben und durchaus politische Denkprozesse anstoßen kann.

Sieverdings Deutschland wird deutscher entsteht in einer Zeit, in der die nationale Identität des wiedervereinigten Deutschland in einer Findungskrise stecke, als in Rostock Flüchtlingsheime brannten und gewalttätige Rechtsradikale den politischen Stillstand forderten. In Bezug auf die zu diesem Zeitpunkt bevorstehende Neugründung der Europäischen Union durch den Maastrichter Vertrag, stellte DIE ZEIT damals fest, dass das deutsche Interesse an dieser grenzüberschreitenden Gemeinschaft immer weiter nachgelassen habe. „Armes Deutschland“, so beginnt Roger de Weck seinen Artikel, dessen plakative Überschrift: „Deutschland wird deutscher“ von Sieverding im Handumdrehen weiterverarbeitet wurde.

De Wecks „Deutschland wird deutscher“ befasst sich mit der innereuropäischen Debatte rund um die Europäische Wirtschaftsvereinigung und hebt hervor, dass eine allgemeine Angst um den Verlust der nationalen wirtschaftlichen und politischen Macht sowie der transnationalen Machtbalance und -teilung bestünde. Die jeweiligen Länder würden eher zu einem Streben des ‚Von-einander-Abgrenzens‘ tendieren. Zusätzlich fordere die junge Bundesrepublik auch eine stärkere nationale Souveränität.

Synonym für Fragen der deutschen Identität

Sieverding stellte fest: Deutschland wird deutscher. Ihr Werk wurde somit zu einem Synonym für Fragen der deutschen Identität: Was macht Deutschland und was soll Deutschland ausmachen? Muss man Angst vor Deutschland haben? Was sind die moralischen Vorstellungen der Nation? Und wohin entwickelt sich die neue Deutsche Republik?

In den Reaktionen war zu erkennen, dass viele gar nicht genau definieren konnten, was denn überhaupt ‚deutsch sein‘ bedeute. Eines ist jedoch klar: ‚deutsch sein‘ bedeutet auch, sich schnell durch Kritik provozieren zu lassen, sich den tatsächlichen Gegebenheiten aus Angst vor unangenehmen Wahrheiten zu verschließen und den Weg der Zensur zu wählen.

Deutschland wird deutscher hat Deutschland und vor allem die Gegend um Stuttgart der 1990er Jahre herausgefordert. Beobachtet man jedoch den aktuellen Zeitgeist, so lässt sich sagen, dass die Relevanz des Werkes immer noch enorm hoch ist. In Zeiten, in denen Donald Trump Amerikas Präsident ist, und die Fortschritte einer gleichberechtigten Gesellschaft in Frage stellt, in denen europäische Länder wie England und Frankreich – im Gegensatz zu Millionen von Kriegsgeflohenen – den Glauben an ein gemeinsames Europa verloren haben, in einer Zeit, in der die Angst vor Veränderung und Fortschritt größer zu sein scheint als das Vertrauen in eine Gemeinschaft, scheint mehr denn je mit Sieverdings Werk appelliert werden zu müssen: Deutschland wird immer noch deutscher – und wir sollten dringend hinterfragen, ob diese Entwicklung im soziokulturellen Interesse der Zukunft ist, oder ob nicht doch eine Menge Diskussionsbedarf besteht, dem man nicht ausweichen sollte.

So eine Gesellschaft braucht Provokation, sie braucht Sieverdings Deutschland wird deutscher, denn: „jeder, der nicht in formalen Vorurteilen befangen ist, weiß, dass die Wahrheit auf viele Arten verschwiegen werden kann und auf viele Arten gesagt werden muss“ (Bertolt Brecht 1938).

„Deutschland wird deutscher“ im Foyer der Bundeskunsthalle, © Katharina Sieverding, VG Bild-Kunst, Bonn 2017, Foto: Jennifer Zumbusch © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH

KATHARINA SIEVERDING
KUNST UND KAPITAL WERKE VON 1967 BIS 2017
bis 16. Juli 2017 in der Bundeskunsthalle