2013 sorgte der sogenannte „Kunstfund Gurlitt“ für weltweite Schlagzeilen. Denn die über 1500 Kunstwerke, die Cornelius Gurlitt von seinem Vater, dem Kunsthändler Hildebrand Gurlitt geerbt hatte, wurden verdächtigt, Raubkunst aus der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu sein. Ab 14. September 2018 wird die Bestandsaufnahme Gurlitt nach den Stationen in Bonn und Bern nun im Berliner Gropius Bau in einer aktualisierten und großangelegten Ausstellung präsentiert. Gezeigt werden nicht nur rund 200 Kunstwerke, die bis 2017 jahrzehntelang dem Blick der Öffentlichkeit entzogen waren, sondern es wird die Herkunft jedes Kunstwerks thematisiert. Die Ausstellung gewährt Einblicke in die Geschichte der Objekte und die Schicksale der verfolgten, meist jüdischen Sammler, Kunsthändler und Künstler, die dem NS-System zum Opfer fielen.
Kuratorin Dr. Agnieszka Lulinska spricht mit uns über die Weiterentwicklung der Ausstellung sowie über neue Forschungsergebnisse und die Schwierigkeiten einer lückenlosen Aufklärung.
Unterscheidet sich diese Ausstellung von der in Bonn? Lohnt sich ein Besuch in Berlin, wenn man schon in der Bundeskunsthalle gewesen ist?
Unbedingt! Auch wenn Einiges gleich geblieben ist: Wir haben das Grundkonzept der Bonner Ausstellung in Berlin beibehalten. Im Mittelpunkt stehen eine – nun veränderte – Auswahl von rund 200 Werken aus dem Kunstfund Gurlitt und deren Herkunft, also die Provenienz. Wir erleben in der Ausstellung ein Stück Zeitgeschichte, erzählt entlang der Biografie des Museumsmanns und Kunsthändlers Hildebrandt Gurlitt. Dabei geht es sowohl um die Geschichte der Werke als auch um die Geschichten ihrer ursprünglichen Besitzer oder Personen aus ihrem Umkreis. Diese Schicksale werden dem Werdegang Gurlitts gegenübergestellt, dessen recht schillernde und in seinen Handlungen oft kaum begreifbare Figur als pars pro toto deutscher Karrieren während und nach den Zeiten des Nationalsozialismus betrachtet werden kann.
„Sie sind ein Teil lebendiger Geschichtsforschung.“
Was ist neu hinzugekommen?
Wir haben die Berliner Ausstellung um großartige Werke der Klassischen Moderne (z.B. von Dix, Nolde, Kirchner, Grosz) aus dem Kunstmuseum Bern erweitert, die in den Erzählstrang eingewoben sind. Auch steht nun die sogenannte „entartete Kunst“ stärker im Fokus, und damit auch die sich stets wandelnde Bewertung des Expressionismus vor, während und nach der Zeit des Nationalsozialismus. Hervorstechendes Beispiel ist Emil Nolde, der mit der nationalsozialistischen Ideologie offen sympathisierte, sich später gegen die Diffamierung seiner Malerei als „entartet“ energisch wehrte und sich nach dem Krieg zur Verkörperung des verfolgten Künstlers stilisierte. Im letzten Kapitel der Ausstellung zeigen wir die bei Gurlitt von den Alliierten nach dem Krieg beschlagnahmten Werke an einer Gitterwand, wie man sie in Depots antrifft. Diese Hängung ermöglicht, auch die Rückseiten der Gemälde zu betrachten. Diese Rückseiten tragen oft Hinweise auf frühere Besitzer, Ausstellungen und Galerien; auch sie sind ein Teil lebendiger Geschichtsforschung.
Wie lässt sich der Erfolg der Ausstellung in Berlin wiederholen?
In der Bundeskunsthalle war besonders schön zu beobachten, wie lange die Besucher in der Ausstellung blieben – im Durchschnitt ca. 90 Minuten; viele verbrachten dort gleich mehrere Stunden und kamen anderntags wieder. Gerade die sogenannten Fallbeispiele und Dokumente zogen die Besucher in ihren Bann: Fotografien, Briefe, Akten, Beschlagnahmeprotokolle, die das Schicksal der betroffenen Menschen plötzlich so greifbar machen. Diese Fallbeispiele von Opfern des Nationalsozialismus sind nun im Gropius Bau um weitere aussagestarke Dokumente und Fotografien erweitert worden. So werden in Berlin einige weitere Schicksale vorgestellt – darunter auch das von dem ursprünglich gefeierten und geehrten Maler Max Liebermann und seiner Frau Martha, die sich vor ihrer Deportation ins Konzentrationslager Theresienstadt das Leben genommen hat.
Gibt es neue Erkenntnisse über die Vorbesitzer, gibt es neue Forschungsergebnisse?
Inzwischen gibt es neue Forschungsergebnisse zu den Provenienzangaben der Werke, die in die zweite überarbeitete Auflage unseres Begleitbuchs und in die Ausstellung eingeflossen sind.
„Wir müssen uns vermutlich damit abfinden, dass die meisten Provenienzen nicht mehr lückenlos geklärt werden können.“
Warum ist die Aufklärung so schwierig?
Nach nun mehreren Jahrzehnten sind viele Spuren verwischt. Hinzu kommt, dass vor allem im privaten Bereich nur wenige Sammlungsinventare existieren, die eine gesicherte Provenienzzuordnung ermöglichen würden. Andererseits sind viele Papierarbeiten, Skizzen und druckgrafische Blätter nicht nummeriert oder näher bezeichnet und können somit noch vorhandenen Bestandslisten nicht mehr zugeordnet werden. Eine Radierung von Canaletto aus dem Bestand Gurlitt könnte zum Beispiel aus einer Sammlung in Wien oder in Berlin stammen – aber es gibt keine eindeutigen Belege mehr, aus denen sich entsprechende Rückschlüsse ziehen ließen. Wir müssen uns vermutlich damit abfinden, dass die meisten Provenienzen nicht mehr lückenlos geklärt werden können.
Was passiert nach der Ausstellung im Gropius Bau mit den Werken?
Das Kunstmuseum Bern als Erbe übernimmt alle Werke, deren Herkunft geklärt werden konnte und die belegbar keine Raubkunst sind. In Bern wird auch weiter zu den Provenienzen geforscht. Werke, bei denen sich der Raubkunstverdacht bestätigen sollte, werden den rechtmäßigen Besitzern oder deren Erben zurückgegeben. Die restlichen Werke, deren Herkunft vielleicht nie geklärt werden kann, bleiben in der Bundesrepublik Deutschland, die sie treuhänderisch verwaltet. Entscheidend ist, dass die „Bestandsaufnahme Gurlitt“ der Diskussion um die Restitution, also der Rückgabe von NS-bedingt entzogenen Kunstwerken an die Erben der ehemaligen Besitzer, neue Impulse gab, und dass es in einer breiten Öffentlichkeit heute ein Bewusstsein dafür gibt, dass Unrecht nicht verjährt. Auch noch über 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs greift der lange Schatten der Vergangenheit in unsere Gegenwart hinein.
BESTANDSAUFNAHME GURLITT
Ein Kunsthändler im Nationalsozialismus
14. September 2018 bis 7. Januar 2019
im Gropius Bau, Berlin