„Inside Klinger“

Ein Gespräch mit Kuratorin Agnieszka Lulinska

Der Pionier des deutschen Symbolismus Max Klinger (1857–1920) gehörte zu den prominentesten und zugleich umstrittensten Künstlerpersönlichkeiten der internationalen Kunstszene um 1900. Sein Werk umfasst Gemälde, Skulpturen und ein reiches grafisches Œuvre. Angeregt von Richard Wagner strebte Klinger die Überwindung von Gattungsgrenzen im Sinne eines Gesamtkunstwerks an, in dem Malerei, Plastik, Grafik, Architektur – möglichst auch Musik – zu einer harmonischen Einheit verschmelzen.
Was das bedeutet das? Und was hat es mit dem Kunstwerk der Zukunft auf sich? Was kann man von der Ausstellung in der Bundeskunsthalle erwarten – inhaltlich wie inszenatorisch? Wir sprachen mit der Kuratorin Agnieszka Lulinska.

Schon allein der Titel der Ausstellung ist sehr spannend. Was hat es mit dem „Kunstwerk der Zukunft“ auf sich?

Bei Max Klinger kann man von einer Dreifachbegabung sprechen: Er war Grafiker, Maler und Bildhauer, was in dieser Qualität nur sehr selten vorkommt. Wir haben aus diesen drei Bereichen repräsentative Werkbeispiele ausgewählt, um sie einem Publikum zu präsentieren, das mit dem Schaffen des Künstlers wenig vertraut ist. Dass wir auch in Zeiten von Corona zahlreiche Objekte bekommen haben, die uns wichtig erscheinen, ist besonders erfreulich.
Wir wollen anhand ausgewählter Themengruppen das facettenreiche Universum Klingers den heutigen Betrachtern und Betrachterinnen näher bringen. Zu seinen Lebzeiten gehörte Klinger zu den wichtigsten Protagonisten der Kunstszene. Heute ist er in Vergessenheit geraten. Bei der Betrachtung seines Gesamtwerks rücken zwei Begriffe in den Vordergrund. Zum einen das Gesamtkunstwerk, ein Phänomen, das gerade in der Zeit um 1900 europaweit eine extrem wichtige Rolle spielte. Alle Künste, wie Architektur, Malerei, Bildhauerei, und nach Möglichkeit auch Musik, sollten zu einer Einheit zusammenfügt werden.
Der von Richard Wagner geprägte Begriff Kunstwerk der Zukunft geht noch weiter. Klinger, der sich intensiv mit zeitgenössischen Strömungen in der Musik, Philosophie und der Kunsttheorie befasste, hat auch Wagners Idee von einem Kunstwerk der Zukunft rezipiert. Besonders wichtig war ihm dabei der Ansatz, dass all die Schwesterdisziplinen zu einer neuen Synthese verschmelzen, sie aber dabei ihre Autonomie, ihren eigenen Charakter nicht einbüßen. Und wenn man die Werke in der Ausstellung betrachtet, spürt man dieses Streben nach einer Verschmelzung der Künste in einem eigens dafür geschaffenen Raum sehr deutlich.

Inwieweit lassen sich die Einflüsse Klingers, wie etwa Wagner, Rodin oder Schopenhauer, in seinen Kunstwerken oder auch in seiner Herangehensweise erkennen?

Jeder Künstler mit großem Innovationspotenzial hat natürlich seine eigene Handschrift. Und diese ist bei Klinger stark ausgeprägt. Er hat sich nicht nur von den damals wichtigen Künstlern und Kunstzentren inspirieren lassen, er hat sich auch an vielen künstlerischen Positionen gerieben und daraus seinen eigenen Weg entwickelt. Immer wieder verbrachte er längere Zeit in Paris. Dort ist auch die Idee zu seiner Beethoven-Skulptur entstanden. Es war die Kunstmetropole jener Zeit, wo Klinger mit unterschiedlichen Kunstrichtungen, und vor allem mit Rodin in Berührung kam. Rodins Skulpturen waren für Klinger eine Offenbarung. Beide Künstler fokussieren sich auf den nackten menschlichen Körper. Aber ihre Herangehensweisen sind ganz unterschiedlich. Wenn man sich Klingers Aktzeichnungen anschaut, ob anhand antiker Vorbilder oder nach lebenden Modellen, sind das sehr stark vom Naturalismus geprägte Darstellungen. Das trifft nicht nur auf seine Skulpturen zu, sondern zum Beispiel auch auf das Gemälde Die blaue Stunde. Wenn man die Zeichnungen Rodins aus derselben Zeit betrachtet, dann spürt man einen ganz anderen Ansatz, der sich der einfachsten formalen Mittel bedient, um den größtmöglichen Ausdruck zu erreichen.
Kunstphilosophisch prägten Klinger vor allem Schopenhauer und Wagner. Wichtige Impulse bezog Klinger aus der Musik. Beethoven bewunderte er zutiefst als Komponisten und als eine außergewöhnliche Künstlerpersönlichkeit. Aber Brahms war sicherlich sein Lieblingskomponist, mit dem ihn auch eine jahrelange Freundschaft verband. Ihm hat er die großartige Grafikfolge Brahmsphantasie gewidmet.

„Jeder Künstler mit großem Innovationspotenzial hat natürlich seine eigene Handschrift. Und diese ist bei Klinger stark ausgeprägt.“

Warum wird Klinger als kontrovers wahrgenommen?

Es sind unterschiedliche Gründe, die Klingers Werk damals und heute kontrovers erscheinen lassen. Zu seinen Lebzeiten waren es seine eigenwilligen Motive und Bildfindungen, mit denen er für Irritationen sorgte. Klinger setzte sich bewusst über die gängigen Sehgewohnheiten hinweg, verlieh klassischen Themen künstlerisch wie ideell eine neue, oft provozierende Form. Das brachte das konservative Publikum und Teile der Kunstkritik gegen ihn auf. Ein Gemälde wie Die Kreuzigung Christi wurde zum Skandal, weil es den überlieferten Mustern, wie sie damals üblich waren, nicht entsprach. Es ist eines der großen klassischen Themen der Kunstgeschichte, ein Paradebeispiel der sogenannten Historienmalerei. Diese widmete sich Themen aus Religion, Mythologie und Geschichte und rangierte ganz oben in der Gattungshierarchie innerhalb der Malerei. Klinger, der allseits bewunderte Grafikkünstler, wollte auch in dieser Königsdisziplin Anerkennung finden. Allerdings schuf er eine sehr eigenwillige Version. So wird Christus, die Hauptfigur des Geschehens, nicht in der Mitte der Kreuzigungsszene, sondern am rechten Bildrand positioniert. Für die größte Empörung aber sorgte der Umstand, dass Christus nackt dargestellt ist. Ein Skandal, der dazu führte, dass Klinger die Blöße Christi schließlich übermalen musste. Hier in der Ausstellung sehen wir das Gemälde allerdings wieder in seinem ursprünglichen Zustand, weil dieser sehr knappe Lendenschurz bei einer Restaurierung in den 1970ern entfernt wurde.

„Klinger setzte sich bewusst über die gängigen Sehgewohnheiten hinweg.“

Ausstellungsansicht, Max Klinger und das Kunstwerk der Zukunft
Ausstellungsansicht, Max Klinger und das Kunstwerk der Zukunft
Ausstellungsansicht, Max Klinger und das Kunstwerk der Zukunft

Nacktheit ist offensichtlich ein zentrales Thema von Klinger.

Für ihn war der Mensch in seiner Nacktheit das A und O der Kunst. Diesem Ansatz ist er tatsächlich von den ersten Studien an sehr konsequent gefolgt. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zeichneten und malten die Künstler immer häufiger nach lebenden Modellen. Klinger ging noch einen Schritt weiter und beschäftigte Berufsathleten als Modelle für seine Skulpturen. Das war die Zeit, in der sich auf Jahrmärkten, in Revues und Varietés männliche Athleten als die Verkörperungen eines „moderne Herkules“ bewundern ließen. Klinger war von der Schönheit ihrer muskulösen Körper fasziniert, er ließ sie in seinem Atelier posieren, was er in unzähligen Studien festhielt. Diese ganz intensive Auseinandersetzung mit dem männlichen Akt öffnete diesem Motiv ganz neue Perspektiven in der Kunst, jenseits der tradierten thematischen Zusammenhänge.
In den Jahren nach 1900 bekam diese Faszination für den menschlichen Körper eine eindeutig erotische Komponente. Um 1909 lernte er die sehr junge Gertrud Bock kennen, die Modell an der Akademie in Leipzig war. Sein Alterswerk ist von erotischen Darstellungen seiner späteren Frau geprägt. Es ist äußerst spannend zu verfolgen, wie sich nicht nur sein persönliches Schönheitsideal, sondern der Frauentyp nach 1900 wandelte. Den etwas fülligeren, sinnlichen Körpern, wie man sie noch in der Blauen Stunde sieht, steht jetzt eine androgyne, schlanke Kindfrau gegenüber. Es ist eine vollkommen andere Ästhetik.

„Für ihn war der Mensch in seiner Nacktheit das A und O der Kunst.“

Du erwähntest bereits Die Kreuzigung Christi, Die blaue Stunde, den Athleten… Über welches Werk freust du dich ganz besonders, dass es auch in Zeiten von Covid-19 den Weg nach Bonn gefunden hat?

Die Möglichkeit das berühmte Beethoven-Denkmal zeigen zu dürfen, ist auf jeden Fall eine kleine Sensation. Es ist über 20 Jahre her, dass das Werk letztmalig auf Reisen war. Natürlich ist es äußerst aufregend Beethoven in seiner Geburtsstadt Bonn im Beethoven-Jahr präsentieren zu können.

Besonders erfreulich auch, nachdem die Beethoven-Ausstellung frühzeitig hat schließen müssen.

Das ist wirklich ein kleines Trostpflaster – oder eher ein sehr großes. (lacht) Die Skulptur wiegt mehr als drei Tonnen. Sie ist ein absolutes Highlight dieser Ausstellung. Ein inhaltlicher und ästhetischer Höhepunkt, auf den auch die zentrale Sichtachse der Ausstellungsarchitektur ausgerichtet ist. Zugleich ist sie ein Höhepunkt im Werk Klingers, sein Opus Magnum. Mit dieser Skulptur feierte er die größten Erfolge, sie begründete seinen internationalen Ruf als Bildhauer, aber sie ist auch das Werk, welches ihm zugleich die meiste Kritik bescherte. Beethoven war das zentrale Ausstellungsstück in der legendären 14. Sezessionsausstellung in Wien 1902.
Die Skulptur polarisierte aus mehreren Gründen. Wir sehen den berühmten Beethoven, den Titanen der Musikgeschichte, dargestellt in der Tradition der antiken Götterbildnisse. Er thront wie der Göttervater Zeus auf einer Wolke, den Adler zu seinen Füßen. Sein markantes Gesicht entstand nach der Lebendmaske Beethovens aus dem Jahr 1812. Sein Oberkörper ist nackt, seine Beine mit einem Gewandtuch bedeckt. Er ballt die Fäuste als Zeichen seines Schaffenswillens und der Entschlossenheit, die Widrigkeiten des Schicksals zu überwinden. Und doch wirkt die Figur fast zerbrechlich… Mich berührt das sehr.
Die Skulptur ist aus 13 unterschiedlichen Teilen und Materialien zusammengesetzt. Bronze und Marmor aus ganz Europa, Elfenbein, antikes Glas… Was für ein Aufwand – logistisch und finanziell. Man darf nicht vergessen, dass Klinger an diesem Monument 17 Jahre lang und zwar ohne einen Auftrag gearbeitet hatte! Es ist eine unglaublich komplexe Skulptur. Und wie immer, wenn etwas kontrovers ist, weckt es besonderes Interesse. Die Ausstellung in der Sezession hat 60.000 Besucher*innen angezogen, die vor allem diesen Beethoven sehen wollten. Jetzt ist er in Bonn, und das finde ich ganz großartig.

„Man findet sich plötzlich in einer anderen Welt, sozusagen ‚inside Klinger‘.“

Du erwähntest bereits die Architektur. Was macht diese so besonders?

Die Architektur haben wir gemeinsam mit dem Ausstellungsgestalter Marcel Schmalgemeijer aus Amsterdam entwickelt, und ich bin sehr glücklich, dass wir ihn für diese Aufgabe gewinnen konnten. Unsere Große Halle ist eine architektonische Herausforderung, die Kunstwerke müssen sich in diesem monumentalen Raum erst einmal behaupten. Uns war schnell klar, dass diese Ausstellung keine chronologisch angelegte Retrospektive sein kann, diese Architektur nicht aus einem Labyrinth kleiner Raumeinheiten bestehen darf. Es bedarf einer großzügigen Inszenierung,  die Klingers Idee des Gesamtkunstwerks aufgreift und mit der großen Geste des Architekten Gustav Peichl in einen Dialog tritt.
Letztlich entscheidend war die Frage: Wie können wir Klingers Universum, das von Pathos und Theatralik geprägt ist, begreiflich und sinnlich greifbar machen? Der Künstler selbst hat seine Gemälde und Skulpturen sehr bewusst für Ausstellungsräume geschaffen und dort inszeniert. Es war eine Zeit, in der Ausstellungen immer populärer, immer aufwendiger gestaltet wurden und man die Kunst als die neue Ersatzreligion zelebrierte. Um einen geschlossenen Raumeindruck zu erreichen, haben wir drei Wände der Großen Halle mit Stoff bespannt, auf dem vergrößerte Ausschnitte aus drei grafischen Blättern Klingers zu sehen sind. Die Originale sind nur etwa 50 x 35 cm groß, die realen Wände neun Meter hoch… Die Scans sind so hoch aufgelöst, dass man jede Linie, jede Schraffur wie unter einem Vergrößerungsglas sieht. So offenbart sich die unvergleichliche technische Meisterschaft des Originals. Dieser Kunstgriff kreiert einfach eine unglaubliche Atmosphäre – man findet sich plötzlich in einer anderen Welt, sozusagen „inside Klinger“. Die einzelnen Skulpturen und Gemälde haben wir, wie in einem Theater, kulissenartig im Raum platziert. Im Säulenkranz, der an antike Festarchitektur denken lässt, haben wir den Athleten aufgestellt, ein weiterer Bronzeguss dieser Figur schmückt die Grabstätte Klingers in Großjena. Wir wollten diese Figur, eine Art Alter Ego des Künstlers, in Relation zu dem als Künstlergott angelegten Beethoven bringen. Alles andere fügte sich dann von selbst.

Ausstellungsansicht, Max Klinger und das Kunstwerk der Zukunft
Ausstellungsansicht, Max Klinger und das Kunstwerk der Zukunft
Ausstellungsansicht, Max Klinger und das Kunstwerk der Zukunft
  1. Max Klinger, Selbstbildnis im Atelier in Karlsruhe (Ausschnitt), 1874, Museum der bildenden Künste Leipzig, Foto: © InGestalt/Michael Ehritt
  2. Ausstellungsansicht, Max Klinger und das Kunstwerk der Zukunft, Foto: Peter-Paul Weiler, 2020 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH
  3. Ausstellungsansicht, Max Klinger und das Kunstwerk der Zukunft, Foto: Peter-Paul Weiler, 2020 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH
  4. Ausstellungsansicht, Max Klinger und das Kunstwerk der Zukunft, Foto: Peter-Paul Weiler, 2020 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH
  5. Ausstellungsansicht, Max Klinger und das Kunstwerk der Zukunft, Foto: Peter-Paul Weiler, 2020 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH
  6. Ausstellungsansicht, Max Klinger und das Kunstwerk der Zukunft, Foto: Peter-Paul Weiler, 2020 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH
  7. Ausstellungsansicht, Max Klinger und das Kunstwerk der Zukunft, Foto: Peter-Paul Weiler, 2020 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH

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