Stuart Sherman Ohne Titel (aus der Serie Spectacles) 1977–1993/2013 Siebdruck Kunstverein Harburger Bahnhof, Hamburg © Courtesy Estate of Stuart Sherman

Gehirn-Mythos

Links die Logik, rechts die Kunst

Dieser Mythos ist besonders hartnäckig. Er besagt, dass Mathematiker*innen und Naturwissenschaftler*innen vor allem die linke Hälfte ihres Gehirns nutzen, weil dort die Windungen für Logik, Analyse und Rationalität lägen. Während Poet*innen, Maler*innen und Rockstars angeblich eher mit der rechten Hemisphäre denken, weil dort die Areale für Kreativität, Empathie und Intuition angesiedelt seien.

Wer nun herausfinden möchte, welcher „Gehirntyp“ er ist, findet auf dem Esoterikmarkt Seminare, Coachings und Bücher. Im Angebot unter anderem: „Das Gehirn in Balance: Test und Training für beide Gehirnhälften“, oder: „Tiefenentspannung zur Synchronisierung beider Gehirnhälften“. Schön auch: „Garantiert zeichnen lernen. Die rechte Gehirnhälfte aktivieren – Gestaltungskräfte freisetzen“.

Sie ahnen es – an dem Mythos ist nichts dran. Beide Gehirnhälften sind fast vollständig symmetrisch aufgebaut. Die linke Hirnhälfte kontrolliert die rechte Hälfte des Körpers und umgekehrt. Wie merkwürdig wäre es, wenn es da Unterschiede gäbe. 2013 untersuchte ein US-Forschungsteam Gehirnscans von mehr als tausend Personen und fand keinen Hinweis darauf, dass Menschen ihre Hirnhälften unterschiedlich nutzen.

Scans des Gehirns
Foto von Cottonbro von Pexels

Allein Teile des Hypothalamus sind bei Frauen und Männern etwas unterschiedlich organisiert, genau wie die Sprachzentren in der Großhirnrinde, das Broca- und das Wernicke-Zentrum. Hier liegt möglicherweise der Ursprung des Rechts-Links-Mythos. 1860 stellte der Mediziner Paul Broca fest, dass Verletzungen der linken Gehirnhälfte oft Probleme mit der Sprachverarbeitung nach sich zogen.

Rund 100 Jahre später schnitten Forscher*innen bei Epilepsiepatienten das Gehirn in der Mitte durch und entdeckten: Es gibt eine sprachdominante linke Hirnhälfte und eine eher in Bildern denkende rechte Hemisphäre. Etwas, das man auch bei Schädigungen eines Gehirns beobachten kann: Verletzungen der rechten Hemisphäre führen häufig zu Verlusten im räumlichen Denken, Verletzungen der linken Hemisphäre – wie gesagt – oft zu Störungen bei der Sprache.

Aber: Auch beim Sprechen arbeiten beide Hirnhälften zusammen. Das Broca-Zentrum, links, ist zuständig für Grammatik und Syntax, das Wernicke-Zentrum, rechts, für den Wortschatz. Hören wir jemandem zu, verarbeitet die linke Hirnhälfte vorwiegend das, was gesagt wird, während die rechte Hirnseite vorwiegend auf Intonation, Tempo und Rhythmus achtet, also darauf, wie es gesagt wird.

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Autor: Ariel Hauptmeier, Fotos: Stuart Sherman „Ohne Titel“ (aus der Serie Spectacles) 1977–1993/2013,  Siebdruck Kunstverein Harburger Bahnhof, Hamburg © Courtesy Estate of Stuart Sherman // Foto von Cottonbro von Pexels
Dieser und weitere Artikel über das Gehirn finden sich in unserem Ausstellungskatalog zur Ausstellung Das Gehirn. In Kunst & Wissenschaft.
Die Ausstellung ist noch bis zum 28. Juni in der Bundeskunsthalle zu sehen.