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Wie das Gehirn entstanden ist

Interview mit Gerhard Roth

Gerhard Roth, 79, war Professor für Verhaltensphysiologie und Entwicklungsneurobiologie an der Universität Bremen und Direktor am dortigen Institut für Hirnforschung. Heute leitet er das Roth-Institut in Bremen und Bern.
Autor Ariel Hauptmeier spricht mit ihm darüber, wie das Gehirn enstanden ist, wie es sich verändert und warum es nicht mehr weiterwächst.

Lieber Gerhard Roth, wollen wir ganz am Anfang beginnen? Wie entstand eigentlich das menschliche Gehirn?

Das ist eine lange Geschichte. Begonnen hat sie vor rund einer Milliarde Jahren, als sich bei Einzellern sensorische Rezeptoren und damit gekoppelte Ionen­kanäle entwickelten. Das machte die elek­trische Umwandlung von Reizen möglich: Ein Bakterium, das gegen ein Hindernis stieß, konnte nun die Richtung ändern, konnte Nahrung und Fortpflanzungspart­ner erkennen. Damit begann es. Dieses grundlegende Instrument, auf dem die Reiz­ und Erregungsverarbeitung unseres Gehirns letztlich beruht, ist uralt.
Wobei – es kann auch sein, dass die Natur die Nervenzellen mindestens zwei­ mal erfunden hat. Denn bei den Quallen und den wurmartigen Tieren, von denen wir abstammen, sind die Chemie der Gehirne und die elektrische Verarbeitung etwas unterschiedlich.

Die Quallen, auf der einen Seite, haben kein Gehirn.

Stattdessen entwickelten sie ein Ring­nervensystem. Und das reicht vollkommen aus, um durch die Ozeane zu navigieren.
Daran hat sich in 500 Millionen Jahren nichts geändert – die Quallen haben immer noch dieses Ringnervensystem. Auch das ist ein Prinzip der Natur: Warum etwas
ändern, wenn es funktioniert?

Derweil die Würmer eine andere Richtung einschlugen.

Wir nennen sie Protostomier, Urmund­-Tiere. Sie waren es wohl, die das Ur­-Gehirn ausprägten: Es lag ringförmig um ihr Maul, dort bildeten sich Ganglien, d. h. Klumpen von Nervenzellen, die all­mählich wuchsen und sich miteinander vernetzten. Diese Nervenzellpakete rund ums Maul, diese „Ober­ und Unter­schlundganglien“, sind die allerfrühesten Vorläufer unseres Zentralnervensystems und unserer Gehirne. Von dort aus ziehen dann lange Zellfortsätze durch den ganzen Körper und bilden meist eigene Ganglien, was unter anderem zum Strick­leiternervensystem der Regenwürmer und Insekten führt.
Einfache Würmer, die am Sandstrand liegen und fast nix machen, brauchen kein großes Gehirn. Vielborster hingegen, groß, mobil und oft räuberisch, haben schon ziemlich komplexe Gehirne. Sie können gut sehen, chemische Reize verarbeiten, schnell auf ihre Umwelt reagieren. Damit wachsen auch die Gehirne. Diese Ent­wicklung mündet letztlich in die komple­xen Gehirne der Bienen und Kraken.

Der Kraken? Da muss ich eine kurze Zwischenfrage stellen: Haben Sie „Mein Lehrer, der Krake“ gesehen, den Dokumentarfilm über die Freundschaft eines Mannes zu einem Oktopus? Die zueinander eine regelrechte Bindung entwickeln?

Ja, kenne ich. Toller Film. In der Tat: Kraken sind hochintelligent. Sie können lernen, imitieren, sie können Gläser auf­schrauben, kleine Behausungen bauen. Vielleicht haben sie so etwas wie ein Bewusstsein.

Wie erkennt man eigentlich, ob Tiere ein Bewusstsein haben?

Indem man ihnen komplexe Aufgaben gibt und – etwa bei Schimpansen – schaut, ob sie in einem Zug aus einem Labyrinth herausfinden. Das können wir Menschen
nur mit einem Aufmerksamkeitsbewusst­sein. Oder ob sie Werkzeuge benutzen können, wie die Neukaledonische Krähe, die sich einen Draht zurechtbiegt, um Futter aus einer Flasche zu angeln. Solch kreative Problemlösungen erfordern so etwas wie ein Bewusstsein, wie wir es beim Kraken, bei Vögeln und Menschen­affen beobachten, vielleicht sogar bei der Honigbiene.

„Die meisten Tiere haben wohl kein Ich­-Bewusstsein. Allerdings deuten Experimente darauf hin, dass einige Säugetiere und insbesondere Menschenaffen wissen, was sie wissen und können und dass sie es sind, um die es sich handelt.“

Ein Ich-Bewusstsein?

Das ist eine eher philosophische Frage. Die meisten Tiere haben wohl kein Ich­-Bewusstsein. Allerdings deuten Experi­mente darauf hin, dass einige Säugetiere und insbesondere Menschenaffen wissen, was sie wissen und können und dass sie es sind, um die es sich handelt. Das könnte man als eine Form des Ich­-Bewusstseins ansehen. Einige davon können sich sogar im Spiegel erkennen.

Zurück zur Entwicklung der Gehirne. Wir Menschen sind weder Quallen noch Kraken. Denn wir haben ein Rückenmark!

Die Evolution nahm eine weitere Rich­tung: Es entstanden schon sehr früh „Sekundärmundtiere“, und – Sie sagen es – die entwickelten ein Rückenmark. Man kann sich das so vorstellen, dass aus irgendeinem Grund ein einfaches Tier wie ein Lanzettfischchen sich eines Tages ent­schlossen hat, umgedreht zu leben. Die können nämlich sowohl mit dem Bauch nach unten als auch mit dem Bauch nach oben schwimmen. Vielleicht war das so. Jedenfalls begannen diese Tiere ein Rückenmark auszubilden. Und bei ande­ren Arten entstanden am Ende dieses Rückenmarks immer größere Gehirne. Und an einem der vielen Endpunkte die­ser Entwicklung stehen wir Menschen mit unseren ziemlich großen, komplexen, dicht mit Nervenzellen vollgepackten Gehirnen.
Diese Stammesgeschichte des Menschen wird von jedem Embryo noch einmal durchlaufen. Kurz nach Beginn der Schwangerschaft entstehen Rücken­mark und Hirnstamm und ermöglichen Bewegung und Stoffwechsel. Dann kommen schnell das Zwischen­ und ins­besondere das Endhirn hinzu. Das Gehirn wächst in drei Richtungen: von hinten nach vorne, von innen nach außen, von unten nach oben. Zum Schluss breitet sich bei Säugetieren mit großen Gehirnen die Großhirnrinde, der Kortex aus, jene gefurchte, nur wenige Millimeter dicke Schicht, die solchen Gehirnen ihr wal­nussartiges Aussehen gibt. Der Kortex allein nimmt beim Menschen zusammen mit den Fortsätzen seiner Zellen knapp die Hälfte des Hirnvolumens ein. Hier sind viele der höheren kognitiven Funk­tionen angesiedelt: Gedächtnis und Verstand, zielgerichtete Handlungen,
Gefühlsleben, Erkennen, das Verarbeiten von Sinneseindrücken. Hier entsteht unser Bewusstsein.

Das menschliche Gehirn wird gern mit einem Schloss verglichen, das aus einer Hütte entstanden ist. Wobei die Hütte nie abgerissen wurde – es wurde einfach immer weiter angebaut und ganz unten, im Keller, ist die Hütte noch da.

Das ist sehr wichtig. Manche denken, das Hirn habe sich von etwas ganz Einfachem zu etwas extrem Komplexem entwickelt und dabei das Alte und Einfache über Bord geworfen. Doch das stimmt nicht. Die alten Teile sind alle noch da und sind nur geringfügig komplexer geworden, der Hirnstamm etwa, gleich über dem Rückenmark. Er ist der älteste Teil des Gehirns, der Kreislauf, Atmung, Schlaf und viele lebensnotwendige Systeme des Körpers reguliert. Wobei fast alle Tiere auf einem relativ niedrigen Niveau stehen
geblieben sind. Ein Insektengehirn, so scheint es, hat sich in 400 Millionen Jah­ren nur wenig geändert. Wir Menschen und unsere Vorfahren gehören zu den wenigen Tiergruppen, die überhaupt ein großes und komplexes Gehirn entwickelt haben, und zwar vornehmlich, weil wir so etwas für das Überleben in einer kom­plexen Umwelt brauchen. Das ist nicht
die Regel. Denn, das hatten wir schon: Warum komplex, wenn es in einer anspruchslosen Umwelt auch einfach geht?

Der Hirnstamm, der älteste Teil des Gehirns, wird im Volksmund bisweilen „Reptilienhirn“ genannt. Ist dieser Name Programm? Anders gefragt: Sind dort, in den alten Teilen des Gehirns, die niederen Triebe, die Aggression, das Unbewusste beheimatet?

Nein, das ist ganz falsch, und ich würde diesen Ausdruck auch nicht verwenden. Das Gehirn der Reptilien entspricht in seinem Grundaufbau genau unserem Gehirn: ein verlängertes Mark, ein Klein­hirn, ein Mittelhirn, ein Endhirn mit einer Großhirnrinde, hier auch Pallium genannt. Reptilien haben kein primitives Gehirn, und Vögel, als Nachkommen der Reptilien, haben sogar ein sehr kompliziertes Gehirn mit einem großen Pallium.

Photo by Robina Weermeijer on Unsplash
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Wo in unserem Schädel befinden sich denn die Instinkte, die Triebe?

Die Idee, es gäbe im Gehirn einzelne Zentren, in denen eine Funktion ganz umrissen irgendwo sitzt, ist ebenfalls ziemlich falsch, das gibt es nur in wenigen Fällen und auf keinen Fall bei komplexen Funktionen. Im orbitofrontalen Kortex sind soziale Normen verankert, und wenn die besagen: Du musst Leute, die dir fremd sind, verachten, dann ist das als Verhalten äußerst primitiv. Aber es ist „hoch“, d. h. in der Großhirnrinde, angesiedelt. Dasselbe gilt für sexuelle Ausgrenzung oder fanatische Glaubens­sätze. Übrigens haben viele Reptilien ein sehr entwickeltes Sozialverhalten, und das umfasst ebenfalls viele Funktionen ihres Endhirns und Kortex bzw. Palliums. Daran sieht man, was für ein Unsinn das mit dem Reptiliengehirn ist.

Wo sitzt das Unbewusste, das Freud’sche Es?

Auch das ist mosaikartig im Gehirn ver­streut. Alle Prozesse außerhalb der Groß­hirnrinde sind prinzipiell unbewusst, und auch in der Großhirnrinde gibt es nur bestimmte Bereiche, sogenannte assozia­tive Felder, deren Aktivität von Bewusst­sein begleitet sind. Die sensorischen und motorischen Funktionen unserer Großhirnrinde etwa arbeiten auch völlig unbewusst. Es ist also mit dem Unbe­wussten viel komplizierter, als man meint.

Welchem Zweck dient die Großhirnrinde?

Sie hat immer die Aufgabe, dasjenige differenzierter darzustellen, was schon im Zwischenhirn und Mittelhirn ver­arbeitet wurde, und es in einem speziel­len Gedächtnis abzuspeichern. Stellen wir uns vor, wir haben einen einfachen Taschenrechner. Doch der reicht uns bei komplexeren Aufgaben nicht. Also kaufen wir uns einen größeren Taschenrechner und dann einen Computer und dann einen noch teureren Computer, der viel schneller rechnen und komplexere Funk­tionen ausführen kann. Weil wir daran
interessiert sind, kompliziertere Funktio­nen zu erfüllen, zum Beispiel die Umwelt genauer darzustellen und auf sie richtig zu reagieren. Ähnlich war es bei der Ent­stehung des Kortex.
Die Grundnetzwerke eines solchen neuronalen „Spezialrechners“, der sich auch bei Wirbellosen findet, sind seit 700 Millionen Jahren da. Danach wurden sie in vielerlei Formen immer weiter ver­feinert. Es entstand dabei aber nichts wirklich Neues, vor allem die Komplexität nahm immer weiter zu. Und das ist äußerst sinnvoll. Zuerst müssen wir über­leben. Dann brauchen wir Emotion und Motivation. Dann müssen wir genauer hingucken können. Dann müssen wir das multisensorisch verarbeiten können.
Und schließlich entwickeln sich zumin­dest beim Menschen Bewusstsein und Ich­Gefühl.
Die Physik und Physiologie der Groß­hirnrinde bzw. des Palliums der Wirbel­tiere sind erstaunlich ingenieurmäßig gestaltet. Ich untersuche das auch im Labor, zusammen mit meinem Sohn und anderen Kollegen. Und da ist man faszi­niert davon, wie das Ganze auf physikali­scher Ebene funktioniert, unglaublich effizient und intelligent. Der Kortex ist in einer Weise strukturiert, wie ein Ingenieur einen sehr elaborierten Computer bauen würde oder vielleicht einmal bauen wird.

„Der Kortex ist in einer Weise strukturiert, wie ein Ingenieur einen sehr elaborierten Computer bauen würde oder vielleicht einmal bauen wird.“

Wann bildet sich beim Embryo die Großhirnrinde?

Bei der Geburt sind bereits alle Nerven­zellen vorhanden und die Großhirnrinde sieht – von der Größe abgesehen – von außen so aus wie später. Was aber weit­gehend fehlt, ist die Binnenverdrahtung. Diese geschieht in den ersten Monaten und Jahren nach der Geburt sehr schnell und wird sowohl durch genetische als auch durch erfahrungsabhängige Prozes­se beeinflusst. In der späteren Kindheit geht das dann langsamer, bis etwa ab einem Alter von 40 Jahren ein langsamer Abbau beginnt.

Und stammesgeschichtlich? Wann begann bei uns Menschen das Gehirn zu wachsen?

Bei Lucy, dem Australopithecus afarensis – falls das wirklich unsere Vorfahren waren –, wog das Gehirn etwa 450 Gramm. Das war vor rund 3,2 Millionen Jahren, das Hirn entsprach in Größe und Gewicht dem Gehirn eines heutigen Schimpansen. Und dann kam es aus bisher nicht geklärten Gründen, wohl durch genetische Mutatio­nen hinsichtlich der Zellteilungsraten, zu einer rasanten Vergrößerung. Der Homo habilis, der vor ungefähr 1,8 Millionen Jah­ren lebte, hatte ein rund 800 Gramm schweres Gehirn und konnte schon eine ganze Menge mehr als Lucy. Dann kam der große Sprung zum Homo erectus, der Werkzeuge herstellte und irgendwann begann, Feuer zu nutzen, mit einem bis zu 1.200 Gramm schweren Gehirn. Von da ist es nicht mehr weit bis zu uns heutigen Menschen mit unserem durchschnittlich 1.350 Gramm schweren Gehirn. Der Neandertaler, ein Cousin von uns, dessen Erbgut wir zum Teil in uns tragen, hat uns sogar übertroffen mit bis zu 1.800 Gramm Hirnmasse. Er scheint eine Sprache besessen und nützliche Werkzeuge und schöne Dinge hergestellt zu haben. Man glaubt, dass die modernen Menschen ihn nicht ausgerottet, sondern ihn „genetisch aufgesogen“ haben.

Warum wurde unser Hirn nicht noch größer, noch schneller?

Man geht davon aus, dass es seit rund 100.000 Jahren nicht mehr wesentlich gewachsen ist. Der Grund: Es kann wahr­scheinlich nicht mehr viel größer werden, weil unser Stoffwechsel ein größeres Gehirn nicht mehr versorgen könnte. Vielleicht ginge es bis 1.600, 1.700 Gramm. Aber dann wäre Schluss. Schon jetzt ver­braucht unser Gehirn, das nur rund zwei Prozent der Körpermasse umfasst, selbst in Ruhestellung 20 Prozent der gesamten Stoffwechselenergie; beim intensiven Nachdenken ist dieser Verbrauch leicht höher. Bis uns schließlich der Kopf raucht und wir eine Pause machen müssen.

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Autor: Ariel Hauptmeier
Fotos: Photo by Fakurian Design & Robina Weermeijer on Unsplash

Dieser und weitere Artikel über das Gehirn finden sich in unserem Katalog zur Ausstellung Das Gehirn. In Kunst & Wissenschaft. Die Ausstellung ist noch bis zum 28. Juni in der Bundeskunsthalle zu sehen.