Thomas Bayrle und Stefan Seibert „Autobahn-Kopf“

Thomas Bayrle und Stefan Seibert Autobahn-Kopf 1989/90, digitally remastered 2021 16mm-Film, schwarzweiß, Ton, 11 Minuten © Stefan Seibert, 2021, Frankfurt am Main

Stephan Hawking

Ein Patient

Am Ende konnte er nur noch einen Wangenmuskel bewegen – und diktierte damit Bücher, die zu Weltbestsellern wurden. Nicht mehr lange, dann wird es Hirn-Computer- Schnittstellen geben. Für Patienten, die wirklich gar keinen Körperteil mehr rühren können.

Bis zu seinem 21. Lebensjahr ist Stephen Hawking ein eher mittelmäßiger Schüler und eher unauffälliger Student. Er belegt Chemie und Mathe, beginnt, sich für Kosmologie und Teilchenphysik zu interessieren – bis er eines Tages erfährt, dass er an ALS leidet, an Amyotropher Lateralsklerose, einer tödlichen Krankheit. Sie wird ihn zunehmend lähmen, bis auch Atmen und Schlucken unmöglich sind. Die Ärzte geben ihm nicht sehr lange. Ab da will Hawking keine Zeit mehr verlieren. Er heiratet eine Kommilitonin, sie bekommen drei Kinder, er wirft sich voller Elan in die Arbeit. 1979 wird er auf den Lucasischen Lehrstuhl für Mathematik in Cambridge berufen, den einst Newton innehatte. 1988 veröffentlicht er Die kurze Geschichte der Zeit, in mehr als 40 Sprachen übersetzt, mit über 10 Millionen verkauften Exemplaren das erfolgreichste Sachbuch des 20. Jahrhunderts.

Da kann er schon nicht mehr sprechen. Zunächst behilft er sich mit Buchstabier-Karten: Immer, wenn ein Assistent auf den richtigen Buchstaben auf der Tafel deutet, hebt er eine Augenbraue, ein langwieriges, frustrierendes Verfahren. Über 20 Jahre lang diktiert er seine Bücher mit seinem Daumen, den er über eine virtuelle Tastatur bewegt, bis 2008 auch der Daumen gelähmt ist. Ihm bleibt nur ein letzter Muskel, um sich verständlich zu machen – ein Wangenmuskel.

Zum Glück hält die Technik Schritt: Ein Infrarotsensor an seiner Brille liest die Bewegungen ab, damit kann er ein Texterfassungsprogramm steuern, seine E-Mails lesen, im Internet surfen, Notizen schreiben, via Skype mit Freunden chatten. Hawking nennt die Vorrichtung seinen „cheek switch“, seinen Wangenschalter. Seine Bewegungen werden langsamer, die Programme werden besser, man lädt all seine Schriften in das Texterfassungsprogramm, oft reicht ein Buchstabe, damit der Algorithmus das Wort erahnt.

2018 stirbt Stephen Hawking im Alter von 76 Jahren. Und fasziniert uns bis heute. Ein großer Geist, eingesperrt in einen hilflosen Körper, seine unverwechselbare Roboterstimme, eigentlich für Telefonansagen entwickelt, die uns Laien einlädt, die entlegensten Winkel des Universums zu durchstreifen, zu erlöschenden Sternen zu reisen, uns kosmische Strings vorzustellen, wirbelnde Teilchen, verdunstende schwarze Löcher, imaginäre Zeit, gekrümmten Raum. Ein Gentleman, der gänzlich unlarmoyant über seine tödliche Krankheit spottet: „Schließlich wurde ich mit einem Beatmungsgerät, das ich nachts benutzte, nach Hause geschickt. Der Arzt teilte Elaine mit, ich käme nach Hause, um zu sterben. (Ich habe meinen Arzt danach gewechselt).“

Was aber wäre gewesen, wenn auch sein Wangenmuskel erlahmt wäre? Wenn Hawking „locked in“ gewesen wäre, vollständig gelähmt, ohne jede Möglichkeit der Kommunikation? Auch dann hätte er sich vielleicht verständlich machen können. Denn der Fortschritt bei BCIs, bei Brain-Computer-Interfaces, also Gehirn-Computer-Schnittstellen, ist rasant. Die naheliegende Idee: Elektroden im Gehirn des Gelähmten zu implantieren, um dort elektrische Signale abzunehmen. Für einfache Ja/Nein-Aussagen reicht das längst. Doch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind schon viel weiter. Gopala Anumanchipalli zum Beispiel, der mit seinem Team an der University of California in San Francisco forscht.

Sie installieren die Elektroden im motorischen Sprachzentrum der Großhirnrinde, dort, wo Zunge, Lippen und Kehlkopf beim Sprechen aktiviert werden. Diese Signale sollen eines Tages einen Sprachgenerator ansteuern, der die gedachten Worte in verständliche Sprache übersetzt. Erste Tests mit Epilepsiepatienten sind vielversprechend: Sie wiederholten einige vorgegebene Sätze, um dem Sprachgenerator beizubringen, welche Hirnsignale welchen Wörtern entsprechen. Und tatsächlich: Die Sprachausgabe war auch dann annähernd verständlich, wenn die Testpersonen die Sätze nicht aussprachen, sondern sie nur lautlos „mimten“. Das macht Hoffnung. Wie lange wird es noch dauern, bis schwerstgelähmte Menschen flüssig sprechen können?

„Als ich einundzwanzig war und ALS bekam, fand ich das außerordentlich unfair. Warum gerade ich? Damals dachte ich, mein Leben sei zu Ende.“

Menschen wie Stephen Hawking. Kurz vor seinem Tod diktierte er: „Als ich einundzwanzig war und ALS bekam, fand ich das außerordentlich unfair. Warum gerade ich? Damals dachte ich, mein Leben sei zu Ende. Ich würde das Potenzial, das ich meiner Meinung nach hatte, niemals ausschöpfen können. Doch heute, über 50 Jahre danach, kann ich gelassen auf mein Leben zurückblicken und zufrieden sein. Ich war zweimal verheiratet und habe drei wundervolle, großartige Kinder. Meine Behinderung hat meine wissenschaftliche Arbeit nicht wesentlich beeinträchtigt. Tatsächlich war sie in mancherlei Hinsicht eher von Vorteil: Ich brauchte keine Vorlesungen zu halten und keine Studienanfänger zu unterrichten, und ich musste nicht an langweiligen und zeitraubenden Institutssitzungen teilnehmen.

Für meine Kollegen bin ich nur ein Physiker unter vielen anderen, doch für die Öffentlichkeit wurde ich womöglich zum bekanntesten Wissenschaftler der Welt. Das liegt zum einen daran, dass Wissenschaftler, von Einstein abgesehen, keine gefeierten Rockstars sind. Zum anderen verkörpere ich das Klischee des behinderten Genies. Auch eine Perücke und eine dunkle Sonnenbrille würden mir nichts nützen – mein Rollstuhl ist einfach zu verräterisch. Sehr bekannt und leicht erkennbar zu sein hat seine Vor- und Nachteile. Zu den Nachteilen gehört, dass es manchmal schwierig ist, alltägliche Dinge zu tun. Ich kann nicht einkaufen, ohne von Menschen belagert zu werden, die mich um ein Foto bitten, und die Presse hat in der Vergangenheit ein geradezu unbändiges Interesse an meinem Privatleben gezeigt. Doch diese Nachteile werden von den Vorteilen mehr als aufgewogen. Menschen scheinen sich aufrichtig zu freuen, wenn sie mich sehen.

In meinen frühen Arbeiten legte ich dar, dass die Allgemeine Relativitätstheorie am Urknall und an Schwarzen Löchern scheitert. Später zeigte ich, wie die Quantentheorie voraussagen kann, was am Beginn und am Ende der Zeit geschieht. Es war wunderbar, in dieser Zeit zu leben und auf dem Gebiet der theoretischen Physik zu forschen. Falls ich etwas zum Verständnis unseres Universums beitragen konnte, wäre mein Glück vollkommen.

In der Großen Halle des Volkes in Peking und im Weißen Haus habe ich Vorträge gehalten. In einem U- Boot bin ich getaucht, in einem Heißluftballon geflogen, und ich nahm sogar an einem Schwerelosigkeitsflug teil. Außerdem habe ich bei Virgin Galactic einen Flug ins Weltall gebucht. Ich hatte ein gutes und erfülltes Leben.“

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Autor: Ariel Hauptmeier, Foto: Thomas Bayrle und Stefan Seibert, Autobahn-Kopf 1989/90, digitally remastered 2021, 16mm-Film, schwarzweiß, Ton, 11 Minuten © Stefan Seibert, 2021, Frankfurt am Main
Dieser und weitere Artikel über das Gehirn finden sich in unserem Ausstellungskatalog zur Ausstellung Das Gehirn. In Kunst & Wissenschaft.
Die Ausstellung ist bis zum 26. Juni 2022 in der Bundeskunsthalle zu sehen.