Foto von Cottonbro von Pexels

Cyborgs

Sinnlichkeit zwischen Mensch und Maschine

In meiner dritten Woche entwickelte ich einen Ekel vor Fußgängerampeln. Nicht, weil ich eine Phobie vor verkeimten Ampelknöpfen bekommen hätte, sondern weil sich durch deren Drücken ein Stromkreis schließt. Die Art, wie dies das Magnetfeld beeinflusst, welches die Ampel umgibt, fühlte sich, nun, widerlich an. Wie ein umgekehrtes Schwindelgefühl. Für Cyborgs wie mich eine Hürde im Alltag.

Ich nahm damals an einer Pilotstudie des Teams rund um Peter König von der Universität Osnabrück teil. Sechs Wochen trugen wir ununterbrochen den Feelspace-Gürtel. Dieser enthielt 36 Vibratoren, wie sie sich auch in Mobiltelefonen finden. Bei diesem Gürtel kündigen sie jedoch keinen Anruf an, sondern sind mit einem elektronischen Kompass so verknüpft, dass immer nur der nördlichste von ihnen ausschlägt. Wendeltreppen hochzulaufen ist dann wie ein Kitzeln, das rund um die Körpermitte läuft.

Feelspace ist ein Beispiel für das, was der Philosoph Andy Clark transparente Technik nennt, bei der wir keine Kenntnis der technischen Realisierung brauchen, um unsere Ziele mit ihr zu erreichen. Wenn wir eine Datei dadurch löschen, dass wir sie „in den Papierkorb legen“, dann müssen wir uns nicht die Art bewusst machen, wie ein Prozessor aufgebaut ist oder welche Berechnungen ablaufen müssen. Opake Technik hingegen verlangt uns solche Kenntnis ab, z. B. wenn wir zum Löschen noch Programmierbefehle wie „DEL C:\desktop\Bundeskunsthalle.txt“ tippen müssten. Bei transparenter Technik sehen wir durch die technische Implementierung direkt auf den Akt und das Ziel, welches wir mit der Technik erreichen wollen. Die technische Realisierung dieses Aktes kann so in den Hintergrund treten. Bei opaker Technik bleibt sie immer im Vordergrund.

Kompass und Karte zu verwenden, um den Weg zu finden, ist für viele opak: Welches Ende der Nadel zeigt nach Norden? Wie ist die Missweisung?

Durch diese tiefe Einbettung der Technik in die Art, wie wir uns und unsere Welt erleben, machen wir den Sprung vom werkzeugnutzenden Homo sapiens zum Cyborg – zum Mensch-Maschine-Zwitter.

Feelspace ist transparent: Norden ist dort, wo es kitzelt. Was ist der wissenschaftliche Nutzen dieses Experiments? Ziel war es, die neuralen Mechanismen für Sinnlichkeit von denen für Werkzeuggebrauch zu unterscheiden. Lerne ich, ein Navigationswerkzeug zu meistern? Dann optimiere ich durch Technik mein Denken. Oder weckt dieser Gürtel in mir ein Gefühl für Magnetfelder? Dann erweitert sie mein Empfinden. Durch diese tiefe Einbettung der Technik in die Art, wie wir uns und unsere Welt erleben, machen wir den Sprung vom werkzeugnutzenden Homo sapiens zum Cyborg – zum Mensch-Maschine-Zwitter.

Haben Cyborgs eine eigene Sinnlichkeit? Die Frage ergibt sich aus der Theorie der sensorimotor contingencies von Kevin O’Regan und Alva Noë. Sie fragen: Was differenziert Sinnesmodalitäten wie Sehen, Hören oder Riechen? Warum fühlt sich das Klingeln einer Glocke anders an als die Farbe einer Tomate, wenn sich doch die Neuronen, die diese Reize verarbeiten, bereits hinter der äußersten Schicht der Sinneszellen in Cochlea oder Retina nicht wesentlich unterscheiden?

O’Regan und Noë erklären dies so: Jede Sinnesmodalität ist mit einer anderen Art gekoppelt, in der wir unseren Körper bewegen müssen, damit sich bei stabiler Umwelt ein anderer Reiz einstellt. Das heißt: Um etwas anderes zu sehen, muss ich mindestens die Augäpfel bewegen; um dasselbe anders zu hören, mindestens den Hals drehen. Der unterschiedliche Charakter unserer Sinne gründet also in unterschiedlichen Kopplungen zwischen Reizungen der Sinneszellen und bestimmten Bewegungen, den sensorimotor contingencies.

Wenn der Charakter eines Sinnes dadurch bedingt ist, wie ich meinen Körper bewegen muss, um anders stimuliert zu werden, dann eröffnet das die Möglichkeit für sensory substitution, d. h. die Ersetzung eines Sinnes durch einen anderen. Wir könnten also Geräte bauen, die Sinnesorgane nachahmen, indem sie diese Reize in Signale umwandeln, die von einem anderen Sinnesorgan (oder vom Gehirn direkt) verarbeitet werden können. Paul Bach-y-Rita war einer der Ersten, der solche Geräte für Blinde entwarf: Signale einer Kamera wurden in ein Netz aus Druckpunkten übersetzt, welches am Rücken von blinden Personen angebracht war. Diese fühlten jedes Signal zuerst nur als Druck, nach einer Weile aber nutzten sie diese zum Navigieren durch Räume und zum Erkennen von Objekten. Nach eigenen Aussagen „sahen“ so selbst blind Geborene wie Gerard Guarniero.

Feelspace geht noch einen Schritt weiter zur sensory expansion, also die Erweiterung der menschlichen Sinnesfähigkeit. Die Spezies Mensch hat keine biologische Basis für einen Magnetsinn. Nach der sensorimotor contingency-Hypothese müsste jedoch bei systematischer Kopplung von Bewegung und Stimulation durch Magnetfelder auch hier eine eigene Sinnesmodalität entstehen können. Mit Feelspace kann man diese Theorie testen.

Ob wir, die wir an dem Projekt teilnahmen, nun einen Magnetsinn erlangten, ließ sich aber nicht mit den Mitteln der Neurowissenschaft beantworten. Keine neurologische Messung, kein Verhaltensexperiment allein war hinreichend, um zwischen Werkzeugmeisterung und Sinnlichkeit zu unterscheiden.

Letztlich musste man uns Cyborgs selbst fragen – und die Antwort fiel uns schwer. Sehen, Hören, Riechen bieten ein Feuerwerk unterschiedlicher Eindrücke. Feelspace nicht. Alles summt gleich, nur eben woanders. Am ehesten ähnelte Feelspace dem Gleichgewichtsorgan: Dieses sagt uns, wo unten ist; Feelspace signalisiert uns, wo Norden ist.

Dennoch hatte für einige (wie mich) das Signal eine eigene Ästhetik, was ein Indiz für Sinnlichkeit sein kann. Denn bei Werkzeugen stehen Funktion und Ziel im Vordergrund – eine andere Farbe macht den Hammer nicht besser oder schlechter, solange der Nagel getroffen wird.

Sinnlichkeit aber verlockt zum ziellosen Genießen – und bringt eben auch die Möglichkeit des Ekels mit sich. Mich ekelten Aufzüge, weil sie das Magnetfeld abschirmen und ich so „magnetisch taub“ wurde. Dem stand der Genuss der Wendeltreppen gegenüber, die meinen neuen Sinn ebenso reizten wie die Achterbahn meinen Gleichgewichtssinn. Andere Cyborgs blieben unbeeindruckt und erlebten das Gerät als flach, technisch, langweilig.

Prinzipiell ist aber nicht ausgeschlossen, dass wir neue Sinne durch Technik ausbilden können. Wenn eine Signalquelle systematisch und für unser Nervensystem verwertbar ist, dann wird sie inkorporiert – wortwörtlich im Falle des Hirnimplantats von Neil Harbisson, auf mehr oder minder lose Weise wie bei unseren Mobiltelefonen oder irgendwo dazwischen, wie bei Feelspace.

Letztlich sind wir natural born cyborgs, wie Andy Clark es nennt. Dass wir auch Artefakte, Werkzeuge, Techniken in die Hardware unseres Geistes integrieren, ist aber nichts spezifisch Menschliches. Manche vermuten die ersten künstlichen Sinnesorgane bei Quallen. Quallen bewegen sich durch Zusammenziehen, koordiniert durch einen Nervenring an der Innenseite ihres Schirms, welcher ihre Verdauungshöhle umschließt. Innerhalb des Schirms können nun im Meereswasser vorkommende Mineralien auskristallisieren und sich, wie ein Pickel, verkapseln. Wenn eine solche Statocyste am Nervenring anliegt, wird sie als nicht-evolviertes Sinnesorgan ausgenutzt: Schwimmt die Qualle nach oben, so wird deren Aufliegen registriert; schwimmt sie nach unten, so fehlt der Reiz. So, wie unser Gleichgewichtsorgan uns hilft, oben von unten zu unterscheiden, nutzten frühe Quallen solch zufällig entstandene Statocysten, um durch die Schichten des Ozeans zu navigieren – gepfiffen drauf, dass diese „Sinnesorgane“ erstmal Resultat von Zufall waren.

Foto von Cottonbro von Pexels
Foto von Cottonbro von Pexels
Foto von Cottonbro von Pexels
Foto von Cottonbro von Pexels

Nervensysteme sind informationshungrig und opportunistisch. Im Gegensatz zum Magen, der nicht alles, was verwertbare Nährstoffe hat, verdauen kann, wird vom Gehirn jede Informationsquelle ausgenutzt, die zuverlässige und verwertbare Signale sendet. Dabei ist es egal, ob sie künstlich oder natürlich ist. Denn die Natürlichkeit oder Künstlichkeit von Reizquellen macht keinen Unterschied für die Funktionsweise der Signale innerhalb des Gehirns. Spätestens eine Ebene hinter den Sinneszellen in Auge, Ohr oder Fingerspitzen werden die Sinne gleichgeschaltet: Alles wird übersetzt in elektrische Spannung und unterschiedliche Mischungsverhältnisse desselben Cocktails an Botenstoffen. Einzelne Nervenzellen des zentralen Nervensystems, die für Sprachverarbeitung zuständig sind, unterscheiden sich dabei nicht wesentlich von denen, die Seh-, Hör- oder Schmerzsignale verarbeiten. Es ist gleich, ob ein Reiz nun von einem künstlichen Werkzeug ausgeht oder von einem Sinnesorgan, solange dies ein Signal für das ist, was in der Umgebung vor sich geht.

Nun sind technische Mittel nur eine Art, wie wir unseren Geist manipulieren können. Ebenso ist ein direkter Eingriff in die Hirnchemie möglich. Man versprach mit Kokain analytisches Denken zu verbessern, mit Ecstasy das Gefühl menschlicher Nähe zu verstärken, mit LSD die Pforten der Wahrnehmung zu öffnen oder mit Ritalin unsere ungebändigte Aufmerksamkeit zu zügeln. Neuro-Enhancement, die Verbesserung unserer Hirnleistung durch unterschiedlichste Moleküle, ist machbar. Aber ist dies wünschenswert?

Es stellt sich nicht nur die Frage, welche Risiken all diese technischen Manipulationsmöglichkeiten für den Einzelnen mit sich bringen. Offen ist auch, wessen Ziele und Vorgaben hier eigentlich erfüllt werden sollen. Der Druck zur kognitiven Selbstoptimierung kommt, ähnlich wie beim Sportdoping, meist von außen: mehr Leistung, mehr Geld, bessere Positionen, mehr Möglichkeiten. Selbst wenn innere Wünsche uns zur Optimierung greifen lassen, müssen wir uns fragen, inwiefern wir dadurch wiederum Außendruck auf andere aufbauen, der dann wie im Sport zum pharmakologischen Wettrüsten auf dem freien Markt führt. Die heutige Form der chemischen Selbstoptimierung im Spätkapitalismus – Koksen an der Wallstreet, Xanax in der Agentur, Microdosing im Silicon Valley – ist das krasse Gegenteil zum psychedelisch-hedonistischen „Tune in, drop out“ der Flower-Power-Ära, auch wenn die Moleküle teils dieselben sind.

Technische Erweiterungen unserer selbst rundheraus abzulehnen, könnte jedoch ebenso überzogen sein, wie sie uneingeschränkt zuzulassen. Die Menschheit könnte dann hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben. Wenn wir den Weg dieses so genannten „Transhumanismus“ beschreiten, sollten wir uns aber darüber im Klaren sein, warum wir dies tun – und dass uns neue, technisch vermittelte Erfahrungen verändern werden.

Hier stehen wir an einer Grenze, bei der wir nicht rational entscheiden können, ob sie überschritten werden soll oder nicht. Wir können uns nur fragen, ob wir herausfinden möchten, wie uns das Überschreiten dieser Grenze verändern wird.

Hier stehen wir an einer Grenze, bei der wir nicht rational entscheiden können, ob sie überschritten werden soll oder nicht. Wir können uns nur fragen, ob wir herausfinden möchten, wie uns das Überschreiten dieser Grenze verändern wird. Die Philosophin Laurie Paul warnt uns vor solchen transformativen Erfahrungen: Häufig können wir nicht wissen, wie es ist, ein neuartiges Erlebnis zu durchlaufen – und manchmal bringen diese Erlebnisse unser Wertesystem und uns als Person selbst ins Wanken. Die Geburt des ersten Kindes oder das Anpassen eines Cochlea-Implantats beispielsweise kann uns als Person stark und unvorhersehbar verändern.

Wenn das Ausmaß unserer Transformation nicht vorherzusehen ist, können wir unmöglich vor der Erfahrung abschätzen, ob es gut oder schlecht ist, sie zu durchlaufen – uns fehlt dafür vor der Veränderung das notwendige Wissen. An dieser Stelle stürzen Cyborgs ins Ungewisse: Bevor ich Feelspace anzog, wusste niemand, was mich erwartete und wie ich mich verändern würde. Technische Machbarkeit und Wissensdrang standen im Vordergrund, nicht ethische Abwägungen.

Nicht alle Veränderungen waren gut. Mein Ekel vor Fußgängerampeln blieb. Meine Fähigkeit zu navigieren wurde bestimmt von einem technischen Objekt, einem inzwischen vermarkteten Gerät mit bezahltem Kundenservice. Ich empfand dies als Abhängigkeit meines neuen Denkens und Fühlens. Und ich musste von Anfang an damit leben, dass, selbst wenn ich einen neuen Sinn entwickeln würde, man mir dieses neue Sinnesorgan danach wieder nehmen würde. Ich hatte kein Anrecht darauf.

Der Weg zum Cyborg kann einerseits zu neuen Abhängigkeiten unseres Denkens und Fühlens von Konzernen und Technik führen. Andererseits verspricht er Heilung von Behinderungen wie Blindheit und neue Möglichkeiten der Welterfahrung. Wer sonst kann sagen, welche Schönheit im Magnetfeld unserer Erde liegt, oder wer wollte nicht die Geborgenheit in der Fremde spüren, wenn die Richtung der eigenen Heimat direkt gefühlt wird wie der Pullover auf der Haut? Um auf der Expedition über die biologischen Grenzen des Menschen hinaus das Gute zu mehren und das Schlechte zu meiden, braucht es Fingerspitzengefühl – egal, aus welchem Material diese Fingerspitzen gefertigt sind.

____
Autor: Sascha Benjamin Fink, Foto: Cottonbro von Pexels
Dieser und weitere Artikel über das Gehirn finden sich in unserem Ausstellungskatalog zur Ausstellung Das Gehirn. In Kunst & Wissenschaft.
Die Ausstellung ist bis zum 26. Juni 2022 in der Bundeskunsthalle zu sehen.

In einem kurzweiligen TED-Talk stellt Neil Harbisson sich und sein Hirnimplantat „Eyeborg“ vor.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden