Die neue Generation tanzt Fase 2018. Foto © Anne Van Aerschot

„Der größte Schritt von allen“

Anne Teresa De Keersmaeker übergibt „Fase“ an die nächste Generation

Im Jahr 1982 – im Alter von 21 Jahren – gelang Anne Teresa De Keersmaeker der Durchbruch mit Fase, Four Movements to the Music of Steve Reich. In den folgenden 36 Jahren tanzte sie die Choreografie selbst. 2018 war es jedoch an der Zeit, dass eine neue Generation von Rosas-Tänzerinnen den Staffelstab von ihr übernimmt. Zu sehen ist Fase am 6. Und 7. Dezember 2019 im Rahmen von live arts in der Bundeskunsthalle. Grund genug also für ein Gespräch über die Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart von De Keersmaekers Werk sowie den zurückgelegten Weg zwischen den beiden Versionen.

Fase ist gemeinsam mit Rosas danst Rosas die am häufigsten aufgeführte Performance unter allen Stücken und stand über den gesamten Zeitraum hinweg auf dem Programm. Nun scheint der Moment gekommen zu sein, die Choreografie an eine neue Generation zu übergeben. Aus welchen Gründen hat Fase so eine große Bedeutung für Dich und für Rosas?

Wenn man es genau nimmt, dann ist Fase nicht meine erste Choreografie, denn vorher gab es bereits Ash (1980). Fase war jedoch eine wirklich wegweisende Arbeit, da sie die ersten Merkmale eines Kompositionsstils durchscheinen ließ, den ich mir später zu eigen machte. Ash war noch mehr ein Herantasten, ein Versuch, das Terrain zu erkunden. Bei Fase geht es um die Kunst der Choreografie, also um die Kunst, Bewegungen zu komponieren, die ich als Autodidaktin unbedingt beherrschen wollte. Violin Phase war der Ausgangspunkt für diese Übung. Als ich 1980 nach New York ging, um an der Tisch School of the Arts zu studieren, da hatte ich eine Aufnahme von Steve Reich mit im Gepäck. In den ersten Monaten meines Studiums war ich wie besessen von der Idee, meinen eigenen Tanz zu kreieren. Ich sah dieses Solo weiter als „mein“ eigenes Tanzstück an. Vor allem, da es alle Elemente aufwies, die den (nunmehr 36 Jahre andauernden) Weg bereiteten, auf dem ich der engen Verbindung zwischen Tanz und Musik nachging. Hinzu kommt das Konzept der Choreografie als Kunst, Bewegungen in Raum und Zeit zu organisieren, wobei die Musik die zeitliche Komponente bestimmt und der Raum basierend auf einer zugrunde liegenden Geometrie unterteilt wird. Zuletzt bringt es einen deutlich „fokal“ ausgerichteten Einsatz von Energie zum Ausdruck. Das Vokabular der eingesetzten Bewegungen ist dabei hochgradig minimalistisch, fast schon alltäglich. Drehungen, Sprünge, schwingende Arme. Es ähnelt ein wenig dem Tanz eines Kindes. Doch im Gegensatz zur Einfachheit der Bewegungen steht die offen sichtbare Energie, mit der sie ausgeführt werden. Diese Spannung habe ich in Rosas danst Rosas näher untersucht. Das Einbringen einer derart hohen körperlichen Energie in eine Komposition gipfelt in einem Moment der Entladung, der einen an einer bedeutenden emotionalen Spannung teilhaben lässt. Damals stand dies im Widerspruch zu den wichtigsten Bereichen des Minimalistic Dance in Amerika, die auf einem losgelösten, fast schon mathematischen Berechnungs- und Präzisionsverständnis beruhten, das wenig bis gar keine persönliche Einbringung des Tanzenden erforderte. Umgekehrt und trotz der sehr engen Struktur und Formalität zeichnet sich das Tanzen von Fase durch eine große körperliche – und dadurch auch emotionale – Intensität aus.

„Ich achte sogar auf die Körpergröße und Frisuren der Tänzerinnen.“

In Bezug auf Rosas danst Rosas hast Du mehrfach angegeben, dass der repetitive und hochgradig strukturierte Charakter der betreffenden Choreografie dem Tanzenden ein hohes Maß an individuellem Charisma und Persönlichkeit abverlangt. Dies scheint darauf zurückzuführen sein, dass sich gerade hierdurch die Performances ungeachtet der großen Einheitlichkeit der Choreografie voneinander unterscheiden. Fase ist sogar noch formaler und abstrakter. Kann man sagen, dass die Besetzung in diesem Fall mindestens genauso wichtig ist wie der Tanz selbst, damit ein erfolgreicher Transfer erfolgen kann?

Ich habe das Stück in drei Abschnitten entwickelt. Zunächst habe ich Violin Phase ausgearbeitet, mein eigenes Solo, bei dem die Besetzung natürlich von großer Bedeutung ist. Ich habe schließlich mit meinem eigenen Körper gearbeitet. Ich habe eine Choreografie geschrieben, indem ich sie selbst tanzte. Und all das während ich tanzte, um meine eigene Choreografie zu schreiben. Dieser doppelte Ansatz ist Teil der DNA des Tanzes und stark damit verflochten, wie ich mich selbst bewege. Come Out war der nächste Teil, den ich zusammen mit Jennifer Everhard entwickelte. In diesem Fall war es wichtig, zwei Tänzerinnen zu haben. Gleiches gilt für die beiden folgenden Teile, Piano Phase und Clapping Music, die ich später gemeinsam mit Michèle Anne De Mey schrieb. In gewisser Weise wurden die Bewegungen auf meinen Körper „verpflanzt“, der damals noch der Körper einer jungen Frau war. Mit dem Ziel, eine choreografische Antwort auf die repetitive minimalistische Musik von Reich zu finden, versuchte ich, ihre visuelle Konformität so weit wie nur möglich zu dehnen, um zu zeigen, was in der Performance anders und was ähnlich war. Nehmen wir zum Beispiel Piano Phase. Dieser Tanz wäre im Ergebnis völlig anders, wenn ein Mann und eine Frau nebeneinander tanzen würden. Und vielleicht ist es heute, in einer Zeit, in der Gendergrenzen zunehmend durchlässiger geworden sind, sogar altmodisch, wenn man so beharrlich an der Auffassung festhält, dass es ein weiblicher Körper sein muss. Diese Grundannahme kann (vollkommen zurecht) in Frage gestellt werden. Und dennoch denke ich, dass diese körperliche Ähnlichkeit von zwei Frauen von Bedeutung ist. Ich achte sogar auf die Körpergröße und Frisuren der Tänzerinnen.

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Findest Du, dass die Wiederholung eines Repertoires mit der Zeit einfacher wird? Oder ist es jedes Mal wieder ein völlig neuer Prozess?

Wir haben jetzt eine Kerngruppe von Tänzerinnen und Tänzern, die fünf verschiedene Stücke des Repertoires aufgeführt haben: Rain, A Love Supreme, Rosas danst Rosas, Zeitigung und Achterland. Fase ist das sechste Projekt. Ich stelle selbst fest, dass die Tänzerinnen und Tänzer sich eine Beziehung zu dem Werk aufgebaut und dass sie meine „Sprache“ buchstäblich verinnerlicht haben. Diese Sprache gewinnt mit jeder Wiederholung an zusätzlicher Tiefe. Man fängt an, mit den Tanzenden Gemeinsamkeiten zu teilen, was unglaublich wichtig ist. Fase konfrontiert einen Tanzenden jedoch mit besonderen Herausforderungen, die sich aus dem Stück selbst ergeben und begründen. Die Choreografie grenzt mit ihrer Kombination von großer körperlicher Intensität und strikter Formalität sowie mit der Forderung nach einem buchstäblich göttlichen „Hauch des Lebens“ an das Extreme. Dieses Element ist anfällig dafür, aufgelöst zu werden. Oder man gibt der Versuchung der Mechanizität nach. Man sollte für dieses Stück jedoch genau die richtige Menge Energie aufbringen.

„Im wahrsten Sinne des Wortes ist das Werk ein Teil meines Körpers geblieben.“

Haben der Lauf der Jahre und die gewachsene Erfahrung einen Einfluss auf die Art, wie Du Fase tanzt? Würdest Du sogar so weit gehen und sagen, dass das Stück einen „Wandel“ erfahren hat? Dass der Stoff heute nicht mehr der gleiche ist wie bei der Premiere im Jahr 1982?

Als Choreografin neigt man dazu, die Komposition an sich von der „Verkörperung“ dieser Komposition zu trennen. Ich muss sagen, dass der aktuelle Umbruch – oder die Tatsache, dass ich mich plötzlich „außerhalb“ der bestehenden Choreografie wiederfinde und einen frischen Blick aus neuer Perspektive auf sie werfe – ein größerer Schritt ist als alle anderen in den vergangenen 36 Jahren. Meine Beziehung mit Fase hat sich beständig weiterentwickelt und es gab nie eine Lücke oder Pause. Im wahrsten Sinne des Wortes ist das Werk ein Teil meines Körpers geblieben. Es kann durchaus sein, dass sich die Bewegung en cours de route, also im Laufe der Zeit, verändert hat. In diesem Fall spreche ich jedoch nicht so sehr von der Komposition an sich, da sie unverändert an Ort und Stelle bleibt. Vielmehr hat sich die Verkörperung der Komposition mit mir gemeinsam weiterentwickelt. Aber ich glaube, dass es nun an der Zeit ist, ein neues Kapitel aufzuschlagen.


live arts präsentiert
ANNE TERESA DE KEERSMAEKER | ROSAS
Fase, Four Movements to the Music of Steve Reich – On Stage (Tanz)

Freitag, 6. Dezember 2019, 20 Uhr &
Samstag, 7. Dezember 2019, 20 Uhr
in der Bundeskunsthalle

Interview: Floor Keersmaekers (in Auszügen aus dem Englischen )

Anne Teresa De Keersmaeker tanzt Fase selbst. Foto © Herman Sorgeloos
Anne Teresa De Keersmaeker tanzt Fase selbst. Foto © Herman Sorgeloos
Die neue Generation tanzt Fase 2018. Foto © Anne Van Aerschot
Die neue Generation tanzt Fase 2018. Foto © Anne Van Aerschot
Anne Teresa De Keersmaeker tanzt Fase selbst. Foto © Herman Sorgeloos
Anne Teresa De Keersmaeker tanzt Fase selbst. Foto © Herman Sorgeloos
Die neue Generation tanzt Fase 2018. Foto © Anne Van Aerschot
Die neue Generation tanzt Fase 2018. Foto © Anne Van Aerschot